Dehnen oder nicht dehnen?

Dehnen oder nicht dehnen?

Das Dehnen gehört noch immer zu den viel diskutierten Themen, sowohl im Freizeit- als auch im Profisport. Soll man nun statisch oder dynamisch dehnen und wie lange? Reduziert Stretching vor dem Sport die Leistungsfähigkeit? Können Dehnungen Muskelkater verhindern oder zur Verletzungsprävention beitragen? Ist Dehnen eine Frage des Wohlfühlens oder ein Muss?

Dehnungen helfen wahrscheinlich nicht bei der Verletzungsprävention und verhindern keinen Muskelkater. Statisches Dehnen als Bestandteil eines multimodalen Warm-ups führt vermutlich nicht zu Leistungseinbußen im Sport. Dehnungen haben nicht nur einen lokalen, sondern auch einen globalen Effekt im Körper.

Gegen Muskelkater?


Kann durch Dehnübungen der Muskelkater (DOMS = Delayed Onset Muscle Soreness) verhindert werden? Zu dieser Frage existiert ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2011, das Fazit lautet: Dehnen hilft nicht gegen Muskelkater. Die Wissenschaftler schlossen zwölf Studien in ihre Analyse ein. Sie untersuchten sowohl das Dehnen vor, als auch nach sportlicher Belastung, oder beides. Es konnte kein relevanter Effekt zur Prävention von DOMS bei gesunden Erwachsenen nachgewiesen werden.

Dies bestätigt auch eine neue systematische Literaturübersicht mit elf randomisierten kontrollierten Studien (RCT) aus dem Jahr 2021. Die Frage war, ob Stretching nach dem Sport (zum Beispiel Krafttraining) die Muskelerholung beschleunigt. Die Forschenden berücksichtigten folgende Formen des Dehnens: statisch, passiv oder nach der PNF-Methode. Die Zielgrößen DOMS, Bewegungsumfang (ROM) und Kraft wurden kurzfristig (eine Stunde später) und mittelfristig (DOMS nach 24, 48 und 72 Stunden) erhoben. In acht der Studien war die Kontrollintervention Nichtstun (Ruhe). Manche Studien hatten mehr als eine Kontrollgruppe, weitere Interventionen waren dann niedrigintensive Aktivitäten wie lockeres Radfahren auf dem Ergometer (drei Studien), Laufen (zwei Studien), außerdem Massagen (eine Studie) und Kryotherapie/Kaltwasserbäder (drei Studien). Die 229 Teilnehmer waren überwiegend Männer im Alter zwischen 17 und 38 Jahren. In rund 70 Prozent der Studien war das Verzerrungsrisiko hoch. Aufgrund dieser methodischen Mängel lässt sich keine belastbare Aussage zu den Effekten von Dehnungen treffen und somit aktuell auch keine Empfehlung dafür aussprechen. Dehnungen waren dem Nichtstun hinsichtlich Kraft oder DOMS nicht überlegen.

Einfluss auf Gelenke?


Ebenfalls aus der Cochrane-Schmiede stammt eine Arbeit aus dem Jahr 2017 mit insgesamt 49 Studien. Das Forschungsteam untersuchte Menschen mit und ohne neurologische Erkrankungen (zum Beispiel Schlaganfall, Morbus Parkinson, Arthrose, Z. n. Gelenkersatz). Es sollte geklärt werden, ob Dehnen zur Behandlung beziehungsweise Prävention von Gelenkkontrakturen zu empfehlen ist. Zu den Interventionen zählten unter anderem Lagerungen, auch mithilfe von Gipsverbänden und Schienen, passives Stretching und selbst durchgeführte Dehnungen. Das Ergebnis: Dehnen verbesserte die Gelenkmobilität nicht wesentlich, zumindest nicht hinsichtlich der zugrunde gelegten Studiendauer von maximal sieben Monaten.

Was passiert beim Dehnen?


Verändert Stretching die Beschaffenheit von Sehnen und Muskeln? Zu dieser Frage trugen Forschende die Ergebnisse von 26 Studien zusammen, die Dauer der Dehnprogramme lag zwischen drei und acht Wochen. Insgesamt betrug die Netto-Zeit unter Dehnung rund 19 Minuten pro Woche. In den untersuchten Studien waren keine Effekte auf die Muskel- und Sehnenarchitektur festzustellen. Kurzzeitige Verbesserungen des Bewegungsausmaßes entstehen wahrscheinlich durch eine momentane Verringerung der Steifigkeit (Stiffness) von Muskeln und Sehnen und durch nervale Anpassungen; die Toleranz gegenüber Dehnungen erhöht sich.

Globale Effekte


Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2021 untersuchte den globalen Effekt von Dehnungen, also nicht allein die Auswirkung auf die Mobilität der gedehnten Extremität, sondern auch der nichtgedehnten kontralateralen Seite. Die Wissenschaftler schlossen elf kontrollierte Studien bis Juli 2020 ein. Die Probanden waren gesunde Frauen und Männer unter 40 Jahren. In sieben Studien wurden die Hamstrings gedehnt, in einer die Hüftadduktoren, in drei Studien der Quadriceps femoris, außerdem die Hüftbeuger (eine Studie) und die Plantarflexoren (eine Studie). Nach einmaligem passivem statischem Dehnen verbesserte sich das nicht-lokale Bewegungsausmaß moderat; so erhöhte sich beispielsweise die Beweglichkeit der kontralateralen, ungedehnten Hamstrings. Aber auch weiter entfernte Körperteile wie die Halswirbelsäule (HWS) profitierten: Nach der Dehnung des Beines zeigte sich in der HWS ein größerer Bewegungsumfang in Flexion und Extension. Nicht ausschlaggebend für diesen globalen Dehn-Effekt waren Parameter wie Geschlecht, Dauer und Intensität der Dehnung. Längeres Stretching (> 240 Sekunden) erhöhte das Bewegungsausmaß kontralateral stärker als kürzeres Stretching (< 120 Sekunden). Dieses Ergebnis war nicht statistisch signifikant, zeigte vielmehr einen Trend.

Effekte auf Nerven


Italienische Forscher interessierten sich für die Auswirkungen von Stretching auf periphere Nerven. Sie inkludierten zehn Studien bis Dezember 2020, neun von ihnen untersuchten Gesunde. Es wurden hauptsächlich der N. ischiadicus (vier Studien) sowie der N. medianus getestet (fünf Studien). Die Studienqualität erwies sich als mittel bis gut. Die Dehnungen variierten von passivem Stretching bis hin zu Nervengleitmobilisationen. In der Mehrzahl der Studien wurde die Intervention einmalig durchgeführt. Die Stiffness des Nervs, gemessen mit Ultraschall-Elastrographie, nahm um durchschnittlich 15,6 Prozent ab, die Druckschmerzschwelle erhöht sich um rund zwei Kilogramm. Zudem beobachteten die Forschenden eine transversale oder longitudinale Verschiebung oder Verformung der Nerven. Prospektive Studien sollten die Auswirkung von Dehnungen auf periphere Nerven weiter untersuchen.

Mehr Beweglichkeit?


Eine systematische Literaturübersichtsarbeit fasst die Ergebnisse von zwölf Studien bis Februar 2021 zusammen. Die Wissenschaftler untersuchten bei Gesunden den Effekt von Dehnungen und Foamrolling auf Bewegungsausmaß und Performance im Sport. Die Interventionen wurden sowohl als Einzelmaßnahmen, als auch in Kombination abgegeben. Die Probanden der Interventionsgruppen wurden mit inaktiven Kontrollpersonen verglichen. Die Outcomes verbesserten sich in beiden Interventionsgruppen, die kombinierte Therapie war den Einzelmaßnahmen nicht überlegen. In einer Subgruppenanalyse war die kombinierte Therapie marginal besser als alleiniges Stretching, bezogen auf die Parameter Kraft und Schnelligkeit. Dies traf aber nur dann zu, wenn zuerst das Foamrolling und danach das Stretching durchgeführt wurde, nicht andersherum.

Athleten können also zeiteffektiv arbeiten und sich entweder dehnen oder mit der Faszienrolle arbeiten, um ihre Beweglichkeit vor sportlichen Leistungen positiv zu beeinflussen. In den letzten Jahrzehnten hat statisches Stretching keinen guten Ruf genossen, teilweise wurde eine anschließende Leistungsminderung der Muskulatur beschrieben. Während ein längeres statisches Stretching (> 60 Sekunden) geringe negative Effekte auf die Performance im Sport haben kann (Einbußen von 4 bis 7,5 % bezogen auf Kraft und Leistung), scheint ein kürzeres statisches Stretching vernachlässigbare Auswirkungen zu haben (Einbußen von 1 bis 2 %). Es ist daher als Teil einer Erwärmung mit zusätzlichem dynamischem Stretching und aeroben Aktivitäten durchführbar.

Konrad et al. untersuchten die Auswirkung isolierter Dehnungen der Hüftbeuger bei gesunden Erwachsenen und kommen zu abweichenden Empfehlungen bezüglich der Dehndauer. Klinische Zielgrößen waren Leistungsparameter wie Laufgeschwindigkeit, Gleichgewicht, isokinetische Kraftentwicklung und Sprunghöhe beim Countermovement-Jump. Acht Studien mit insgesamt 165 Probanden (111 Männer) wurden in die Analyse eingeschlossen. Statisches (sieben Studien), dynamisches und ballistisches Stretching wurden untersucht, sowie Dehnen nach der PNF-Methode. Das Forschungsteam definierte in Bezug auf die Dehndauer drei Klassen: 30 bis 90, 120 und 270 bis 480 Sekunden. Die durchschnittliche Dehndauer in den Studien betrug 242 ± 205 Sekunden. Eine dynamische oder PNF-Dehnung der Hüftflexoren von bis zu 120 Sekunden führte zu keiner Verschlechterung der Performance, einzelne Balance-Parameter verbesserten sich sogar. Die Sprungleistung erhöhte sich nach statischem Dehnen von maximal 120 Sekunden Dauer. Die Autoren schlussfolgern, dass Hüftflexoren bis zu 120 Sekunden statisch gedehnt werden können ohne negative Effekte auf die sportliche Performance, anders als bei Wadenmuskeln, bei denen in früheren Studien anschließend eine Leistungsminderung zu beobachten war. Da in nur jeweils zwei Studien dynamisches oder PNF-Stretching eingesetzt wurde, ist ein Vergleich der Dehnformen nicht möglich gewesen.

Verletzungsprävention


Ob regelmäßiges Dehnen zur Verletzungsprävention beiträgt, ist unklar. Eine niederländische Literaturübersichtsarbeit aus dem Jahr 2020 schloss die Ergebnisse von 15 Studien mit insgesamt 14.370 Teilnehmern aus dem Militär ein. Eine Metaanalyse konnte für den Vergleich von statischem Dehnen mit keinem Dehnen vorgenommen werden (3.532 Personen). Statisches Dehnen verhinderte keine muskuloskelettalen Verletzungen bei Angehörigen des Militärs.

Krafttraining


Auch Muskelschwäche kann zu einer eingeschränkten Gelenkbeweglichkeit führen. Portugiesische Forscher verglichen daher die Auswirkungen von Krafttraining versus Dehnungen auf die Beweglichkeit. Sie inkludierten elf Studien bis März 2021, rund 450 Teilnehmer insgesamt. Sieben Studien untersuchten ausschließlich Männer. Die Studienpopulationen waren heterogen, von Freizeitsportlern über vorwiegend sitzenden Gesunden bis hin zu Älteren mit Problemen bei Aktivitäten des täglichen Lebens (zum Beispiel Gehen oder Baden). In den meisten Studien wurde die Beweglichkeit von Hüfte (sieben Studien), Knie (fünf Studien) und Schulter (vier Studien) untersucht, außerdem Ellenbogen, HWS, Rumpf und oberes Sprunggelenk. Die Interventionen dauerten zwischen fünf und 16 Wochen, mit zwei bis fünf wöchentlichen Einheiten. In Bezug auf das Bewegungsausmaß gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen Stretching und Krafttraining. Eine Limitation ist die mitunter ungenaue Beschreibung der Parameter (Dauer, Intensität, Frequenz) und die Heterogenität der inkludierten Studien.

Stretching ist „dehnbarer“ Begriff


Viele Parameter beim Dehnen sind nicht geklärt. Häufig wird die Intensität des Dehnens nicht exakt beschrieben, deshalb ist deren Relevanz unklar. Auch die zur Dehnung spezieller Muskeln idealen Ausgangsstellungen bleiben ungewiss. Dehnen bleibt ein komplexes Thema. Es ist sicher kein allein selig machendes Allheilmittel, dafür fehlen die wissenschaftlichen Belege. Viele schwören allerdings auf Stretching und brauchen die Übungen subjektiv für ein gutes Körpergefühl. Für manche Sportarten erscheint das Dehnen intuitiv wichtiger als für andere, zum Beispiel beim professionellen Tanz. Einleuchtend erscheint die Idee vom Dehnpluralismus, der verschiedene Dehntechniken nebeneinander existieren und sich ergänzen lässt und auch alternative Formen der aktiven Erholung einschließt, beispielsweise lockeres Auslaufen nach einem intensiven Workout.

Abbildung: Dirima / shutterstock.com
Quelle: shape UP 4/2022

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