No pain, no gain
Schmerzen entstehen ausschließlich im Gehirn und sind als Handlungsaufforderung dessen zu verstehen. Fühlt sich unser Gehirn unsicher, kann es mit Schmerzen auf diese Situation reagieren. Sie sind daher ein Output und gehen nicht zwangsläufig mit einer Verletzung einher. Für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung ist daher ein richtiges Verständnis von Schmerzen wichtig und es ist unerlässlich, das Gehirn mit einzubeziehen.
In der Trainings- und Therapiewelt bestehen häufig immer noch viele Missverständnisse in Bezug auf Schmerzen. Es herrscht Unklarheit, wo und warum Schmerz entsteht, und oft verschlimmert dieses falsches Verständnis Schmerzen oder lässt sie gar erst entstehen. Hierzu muss man sich dem Gehirn zuwenden, denn hier entstehen sie. Und dies gilt ausnahmslos für alle Fälle. Hierbei gibt es ganz unterschiedliche Arten von Schmerzen. Eine Wunde tut weh, wenn wir uns geschnitten haben. Unsere Knie schmerzen nach einem langen Lauf. Wir bekommen Kopfschmerzen von langer PC-Arbeit oder Bauchweh, wenn wir gestresst sind.
Grundsätzlich sind Schmerzen etwas Unangenehmes und ein Warnsignal. Sie werden allerdings zum einen situationsbedingt unterschiedlich wahrgenommen und zum anderen ist unser Schmerzempfinden sehr individuell. So kann es sein, dass angeschossene Soldaten weiterkämpfen, als sei nichts passiert, oder dass Frauen bei der Geburt trotz für den Mann nicht vorstellbarer Schmerzen auch bei der nächsten Wehe pressen. Schmerzen bedeuten natürlich nicht automatisch eine Verletzung. Dies zeigen auch die oben genannten Beispiele der Kopfschmerzen nach PC-Arbeit oder die Bauchschmerzen bei Stress.
Es ist daher entscheidend zu verstehen, was Schmerz bedeutet sowie wie und wo er entsteht. Hierzu ist es notwendig, sich dem Gehirn zuzuwenden. Unser Gehirn arbeitet nach einem einfachen Schema. Unser Nervensystem bezieht Informationen aus der Umwelt. Dies kann auch als Input bezeichnet werden. Das Gehirn verarbeitet diese Informationen und interpretiert sie. Erst nach dieser Einschätzung erfolgt eine Reaktion – auch Output genannt.Hinzu kommt, dass unser Gehirn sich permanent eine Frage stellt: Ist es sicher? Empfindet unser Nervensystem einen „Input“ als negativ bzw. bedrohlich, erhöht dies die Unsicherheit im Gehirn und unser Körper reagiert mit einer Art Schutzmechanismus, dem Output. Dazu zählen in erster Linie die Einschränkung von Kraft und Beweglichkeit, eine Erhöhung der muskulären Spannung, Verschlechterung der Stabilität, aber auch Schmerzen. Schmerzen entstehen somit nicht im Körper, sondern sind immer eine Reaktion unseres Gehirns auf die Informationsaufnahme, -verarbeitung und Interpretation.
Es existieren keine Schmerzrezeptoren
Alleine unser Gehirn entscheidet, ob Schmerzen empfunden werden oder nicht und auch, wo diese empfunden werden. Um es deutlicher zu sagen: Es gibt keinen Schmerz in Knie, Rücken, Schulter oder sonst irgendwo im Körper, denn es existieren auch keine „Schmerzrezeptoren“. In unserem Körper befinden sich viele verschiedene Rezeptoren. Alle sind für unterschiedliche Dinge zuständig: Druck, Temperatur, chemische Veränderungen usw. Ein weiterer Rezeptor ist für Nozizeption zuständig. Diese Rezeptoren melden starke Veränderungen im Gewebe, aber nicht zwangsläufig Schmerz. Diese Meldung gelangt über unsere Nerven sowie das Rückenmark zum Gehirn. Dort wird die „Gefahrenmeldung“ mit anderen Informationen abgeglichen. Ist die gemeldete Veränderung so „bedrohlich“, dass unser Gehirn sie als ernstzunehmende Gefahr ansieht, ist Schmerz eine mögliche Reaktion darauf, aber es gibt keinen Rezeptor, welcher für Schmerzen zuständig ist oder diese erzeugt.
Schmerzen sind vielmehr als „Ausgangssignal“ unseres Gehirns zu verstehen. Dies bedeutet, dass in letzter Instanz unser Nervensystem darüber entscheidet, wie viel und ob wir überhaupt Schmerz verspüren. Die Schmerzwahrnehmung steigt nicht mit der Größe der Verletzung, sondern ist immer situationsbedingt. So lässt sich auch erklären, warum der angeschossene Soldat keine Schmerzen empfindet. Seine Gesamtsituation wird von seinem Gehirn als durchaus bedrohlicher wahrgenommen als die Verletzung. Ist er nicht in der Lage, weiterzukämpfen oder zu flüchten, so könnte ihm noch Schlimmeres als die bisherige Schusswunde widerfahren. In solchen Fällen lässt unser Gehirn schlichtweg keine Schmerzen zu.
Das Beispiel der Kopf- und Bauchschmerzen wiederum zeigt, dass für eine Schmerzwahrnehmung nicht zwangsläufig eine Gewebeschädigung vorhanden sein muss. Schmerzen entstehen nicht immer da, wo ein Problem besteht. Diese Sichtweise würde Schmerz als Eingangssignal definieren, was, wie bereits beschrieben, nicht richtig ist. Die Ursache kann eine völlig andere sein. Unser Gehirn versucht vielmehr, durch Schmerzen unsere Handlungen zu beeinflussen, um eventuelle Schäden zu vermeiden oder zu reduzieren. Von daher haben Schmerzen eine sehr wichtige Aufgabe in unserem Körper und es ist gut, dass wir sie empfinden können. Sie sind also nicht per se schlecht. Vielleicht fühlt sich unser Gehirn in diesem Moment unsicher und nutzt einen eventuell schon bekannten Schmerz, um unsere Handlung zu beeinflussen und wieder mehr Sicherheit zu gewinnen. Da unser Gehirn einzig und allein an unserem Überleben interessiert ist, beurteilt es jede Situation danach, ob sie potenziell gefährlich ist oder nicht. Diese Beurteilung geht wie gesagt nicht zwangsläufig mit einer Verletzung einher. Um schmerzfrei zu sein, braucht das Gehirn schlichtweg ein Gefühl der Sicherheit.
„No pain, no gain!“
Tatsache ist, dass bei jeder Schmerzerfahrung viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen, ob etwas schmerzt oder nicht. Haben wir als Trainer und Therapeuten diesen Sachverhalt verstanden, so wird auch klar, dass der Trainingsspruch „no pain, no gain“ falscher nicht sein könnte.Es ist weder im Training, noch in einer Behandlung notwendig, Schmerzen auszuhalten, um später eine Besserung zu verspüren. Wenn ein Trainer sagt: „Da musst du durch. Ein wenig Schmerzen gehören dazu. Dadurch gewöhnst du dich an die Belastung und wirst stärker bzw. besser“, dann ist dies schlichtweg falsch. Wann immer wir beim Training Schmerz empfinden, so sieht unser Gehirn eine Gefahr und möchte uns dazu auffordern, unsere Handlung zu verändern. Ignorieren wir diese Aufforderung kontinuierlich, wird sich unser Gehirn etwas Anderes, Neues einfallen lassen, um unser Verhalten zu ändern. Dies kann dazu führen, dass unsere Leistung schlechter statt besser wird, oder dass sich Schmerzen verschlimmern oder verlagern.
Erstverschlimmerung darf nicht sein
Ähnliches gilt für eine Therapiebehandlung. Hier wird häufig von einer Erstverschlimmerung gesprochen, die jedoch nicht vorkommen sollte. Hierzu ein kleiner Vergleich: Stell dir vor, deine Waschmaschine läuft aus und du rufst einen Klempner. Er sagt zu dir: „Nach der Reparatur läuft erst noch einmal mehr Wasser aus der Maschine, bevor sie später dichthält. Das ist ganz normal.“ Diesen Klempner würdest du doch nie wieder engagieren.
Genauso verhält es sich mit Schmerzen. Sie sind nach einer guten Behandlung besser oder sogar weg. Nie schlimmer. Eine Erstverschlimmerung ist ein Hinweis darauf, dass die Behandlung nicht das richtige Mittel der Wahl für diese Situation ist, da unser Kopf sie nicht als sicher empfindet.
In einem ähnlichen Zusammenhang ist auch das Training und die Therapie von schmerzenden oder verletzten Gelenken oder Strukturen zu sehen. Nicht immer ist dies die optimale Lösung. Häufig wird nach folgendem Schema verfahren: Bei Nackenschmerzen muss der Nacken behandelt werden oder eventuell noch die benachbarten Gelenke wie HWS und BWS. Hier ist es wichtig, ggf. andere Aspekte und Wege in Betracht zu ziehen, damit unser Gehirn weniger Gefahr verspürt. Es könnte beispielsweise eine mögliche Beeinträchtigung des visuellen Systems vorliegen, wodurch die Nackenschmerzen entstehen.
Input orientiertes Arbeiten
Für eine optimale und dauerhafte Schmerzreduktion sollten wir als Trainer und Therapeuten demnach immer inputorientiert arbeiten. Interpretiert unser Nervensystem eingehende Informationen als positiv und hilfreich, so erhöht sich das allgemeine Sicherheitsempfinden in unserem Gehirn. Dies führt zu einer Optimierung des Outputs, was wiederum weniger Schmerzen bedeutet. Dies gilt sowohl für Training, als auch für Therapie.
Eine wichtige Hirnregion in Bezug auf Schmerzen ist der Thalamus. Insbesondere wenn es sich um chronische Schmerzen handelt. Der Thalamus fungiert als eine Art Filter in unserem Gehirn bzw. als Türsteher. Er sorgt dafür, dass Informationen richtig eingeordnet werden, und hier liegt bei chronischen Schmerzen häufig eine Fehlinterpretation vor. Um Informationen nun richtig einordnen zu können, braucht es in allererster Linie Wissen. Trainer und Therapeuten können ihren Patienten somit dahingehend helfen, indem sie Aufklärungsarbeit leisten, zum Beispiel, indem häufige Missverständnisse in Bezug auf Schmerzen aufgeklärt werden. Dies kann häufig schon zu einer deutlichen Reduktion der Schmerzproblematik führen.
Bei Rückenschmerzen beispielsweise ist es essenziell, sich auch mit dem visuellen System zu beschäftigen. Unsere Augen sind ein wichtiger Inputgeber für unser Gehirn. Sie liefern zum einen Informationen über unsere Umwelt und koordinieren viele unserer Bewegungen. Ist das visuelle System mangelhaft oder liefert zu wenig Informationen an unser Nervensystem, so ist das Gehirn nicht in der Lage, Situationen adäquat einzuschätzen. Dies kann im schlimmsten Falle auch zu Schmerzen führen. Der hier beschriebene Ansatz erklärt auch, warum Schmerztherapie bzw. -behandlung teilweise nicht den gewünschten Erfolg mit sich bringt. Durch ein „falsches“ Schmerzverständnis kann es sogar sein, dass in manchen Fällen der Schmerz verschlimmert wird oder er gar erst entsteht.
Abbildung: AstroStar / shutterstock.com
Quelle: shape UP Vita 6/2021
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